Ohne Licht im hellen Netz - warum Accessibility wichtig ist und was es zu beachten gibt

7. April 2021 - von Maya Walther


Inklusion bedeutet Zugang für alle zu allem. Da wir bei Apps with love die Endnutzer*innen ins Zentrum stellen, ist es uns wichtig, dass wir auch an die grosse Anzahl Enduser*innen denken, welche eine Sehbeeinträchtigung haben. Allzu oft werden Apps und Websites entwickelt, welche für diese Menschen kaum oder gar nicht zu nutzen sind.
Wir haben Marcel Roesch kennengelernt und mit ihm die gut zugängliche Website “help2type” entwickelt. Dort wird eine haptisch fühlbare Tastatur für Smartphones angeboten -  ein sehr praktisches Tool für Sehbehinderte.
Im nachfolgenden Blogbeitrag erzählt Marcel darüber wie es ist, mit einer Sehbeeinträchtigung im Internet unterwegs zu sein und was es bei der Softwareentwicklung im Bezug auf digitale Barrierefreiheit, sprich Accessibility, zu beachten gibt. Damit auch eure Software zukünftig für alle zugänglich ist, versorgen wir euch mit den wichtigsten Informationsquellen rund ums Thema Accessibility.


Marcels Einblick in die schönen und nervigen Erlebnisse der digitalen Welt

Stell Dir vor, Deine Welt der Sinne wird um 80% reduziert. Genau das passiert, wenn Du blind bist. Dank dem Internet bleiben Dir heute trotzdem viele Möglichkeiten offen. Du kannst alleine shoppen, Informationen konsumieren und Dich mitteilen.
Das ist Freiheit. Aber es geht nur, wenn bei der Planung und der Umsetzung daran gedacht wird. Ein Lichtschalter nützt nur, wenn er eingeschaltet werden kann oder die notwendigen Hilfsmittel vorhanden sind, um ihn einzuschalten.

In der Schweiz leben laut einer Studie vom Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen rund 377'000 Personen mit einer Sehbehinderung, Blindheit oder Hörsehbehinderung. Weltweit kann diese Zahl ungefähr mit drei Nullen ergänzt werden. Das sind mehr als 4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Es rentiert sich durchaus, diese Zielgruppe in der digitalen Welt zu berücksichtigen. Bei der Softwareentwicklung sollte dem Thema “Accessibility” den entsprechenden Stellenwert eingeräumt werden. 

Um Computer, Internet, Smartphones und Apps nutzen zu können, bin ich auf einen Screenreader und verantwortungsvolle Programmierer*innen angewiesen. Die Screenreadersoftware liest mir vor, was im Backend als Bildschirmanzeige definiert wurde. Haben also die Programmierer*innen einen guten Job gemacht, sind die Links nach dem benannt, was sie auslösen (beispielsweise ein Produktbeschrieb), Bilder nach dem was sie abbilden (Mann mit Brille) und Buttons in Apps sind nach Funktion beschriftet (zurück, Menü, teilen, usw.). Ist das nicht richtig gemacht, heisst der Link vielleicht abrklwpyiejröy*890s2, Bilder heissen Grafic2754 und Knöpfe in den Apps heissen sehr kreativ "Taste".

Anfangs brauche ich immer viel Zeit, um eine neue Seite zu verstehen: Sind die Titel richtig gesetzt? Kann ich direkt zu Formularfeldern springen? Werden mir alle Infos vorgelesen? Sobald ich eine Seite kenne, kann ich mit unzähligen Tastenkombinationen schnell und zielgerichtet navigieren. Dies bedingt jedoch, dass die Anforderungen an Accessibility auch erfüllt werden. 

 

E-Commerce: Shopping-Erlebnis mit Hindernissen

Ganz schlimm ist es, wenn ich mich ewig durch eine Seite kämpfe, endlich das gewünschte Produkt im Warenkorb habe und am Ende beispielsweise die Zahlungsmöglichkeit nicht auswählen kann. Der Killer sind visuelle CAPTCHAs, die keine Sprachausgabe, allgemein bekannt als  “Audiodescription”, anbieten. Alle visuellen Effekte sind mir verborgen. Da nützt es nichts, wenn ein Bestellknopf gross, fett und blinkend auftaucht. Wenn er nicht korrekt definiert ist, findet ihn die Screenreadersoftware nicht.

Visuelle Features sind für sehbeeinträchtigte und blinde Menschen irrelevant. Farben, Grössen, Effekte usw. sind nur begrenzt hilfreich. Trotzdem gibt es ja auch sehende Nutzer*innen. Es müssen zwei Bedürfnisgruppen berücksichtigt und aufeinander abgestimmt werden. Das ist herausfordernd und muss bei der Umsetzung eines Projektes von Anfang an eingeplant werden. Werden die Anforderungen verschiedener Zielgruppen erst am Ende des Projekts berücksichtigt, wird das logischerweise aufwändig. Das gilt für alle Zielgruppen, aber insbesondere, wenn es um die Zugänglichkeit einer digitalen Lösung geht. Daher kommt auch die leider weit verbreitete Meinung, dass Barrierefreiheit teuer sei. Das ist nicht unbedingt der Fall. Wenn die Bedürfnisse aller Nutzer*innen von Anfang an in Konzept, Design und Entwicklung berücksichtigt werden, ist der Mehraufwand überschaubar.


Wenn es um visuelle Features geht, müssen gewisse Grundsätze beachtet werden. Auch für nicht sehbehinderte Menschen müssen Inhalte einfach lesbar und verständlich sein.

  • Dynamische Schriftgrössen: die “richtige” Schriftgrösse gibt es nicht. Klar ist, dass sich die Schriftgrösse dem Ausgabemedium anpassen muss. Nicht vergessen werden dürfen aber die Benutzer*innen dieser Ausgabemedien. Menschen sehen unterschiedlich gut oder schlecht, sodass es schwierig ist, es mit einer Schriftgrösse allen recht zu machen. Die Lösung zum Problem sind dynamische Schriftgrössen, die es den Benutzenden möglich machen, die bevorzugte Schriftgrösse selber zu bestimmen.

Dynamische Schriftgrössen
  • Farbkontraste: Es gilt hierbei, auf gute Kontrastverhältnisse zu achten - sind die Farbkontraste zu tief, sind Unterschiede nur schwer wahrzunehmen. Auch gewisse Komplementärfarben sind für manche Menschen nicht zu unterscheiden (rot-grün Blindheit). Farbkontraste lassen sich berechnen - Tools wie der Contrast Checker helfen dabei.

Schlechte vs. optimierte Farbkontraste
  • Kombination von Farbe, Text und Icons: Wichtige Informationen sollten nicht nur auf Farben basieren. Zusätzliche Informationen und in Form von Text und Icons helfen, die  Kommunikation klarer und einfacher verständlich zu machen.

Kombination Farbe, Icon und Text

Sich mitteilen können

Um uns im digitalen Raum mitteilen zu können, müssen wir schreiben können. Ein Touchkeyboard ist für Sehbeeinträchtigte kaum bedienbar. Deshalb habe ich die welterste mobile Tastatur für Smartphones entwickelt. Die haptische Tastatur von help2type ist kompakt und kann direkt an jedem Smartphone befestigt werden. Sie ist per Bluetooth verbunden und funktioniert mit iOS und Android. Klar, es gibt heute auch die Diktierfunktion, aber wer will schon Businessnachrichten, diesen Blog hier, Liebesbekenntnisse oder Passwörter in der Öffentlichkeit diktieren?

Dank help2type ist es möglich, sich schriftlich mitzuteilen und dazu zu gehören.

Interessanterweise können wir mit der Tastatur von help2type nebst sehbeeinträchtigen Menschen auch ältere Menschen glücklich machen. Weil die Tasten haptisch sind, fällt ihnen das Tippen einfacher. Sie können sich wieder in Vereins-Chats mitteilen oder ihren Grosskindern Nachrichten senden:

Erfolgsfaktoren für eine gut zugängliche Website oder native App

Die Erfolgsfaktoren für Accessibility liegen in einer guten Planung, mitdenkenden Designer*innen und Programmierer*innen und offener Kommunikation. Meine Erfahrungen mit Apps with love waren diesbezüglich hervorragend. Ich habe als betroffener Auftraggeber meine Bedürfnisse einbringen dürfen und Apps with love haben ihre Programmierer*innen entsprechend gebrieft. Trotzdem stolperten wir bei der Entwicklung der help2type Website über das eine oder andere knifflige Feature. Zum Beispiel stellte sich heraus, dass viele Personen die auf einen Screenreader angewiesen sind noch mit Internet Explorer surfen. Dies obschon der IE als Browser ein Auslaufmodell ist. Für Screenreader-Software funktioniert er aber zuverlässiger als andere Browser. Deshalb musste der Support für diesen Browser natürlich gewährleistet werden. Es bedarf also die gegenseitige Bereitschaft, sich gemeinsam zu entwickeln und das Resultat im Auge zu behalten. Das haben wir erfolgreich gemacht.

Es gilt zu bemerken, dass es unterschiedliche Abstufungen von Barrierefreiheit gibt. Ich kann nur als User im Bereich Blinde und Sehbehinderte sprechen. Beispielsweise gibt es aber auch Menschen, die nicht lesen können - auch deren Bedürfnisse sollten abgeholt und abgedeckt werden. Diese Anforderungen schon möglichst früh in der Planung zu berücksichtigen, ist der Schlüssel zum Erfolg.
Wenn ich einen Wunsch an Projektmanager*innen und Programmierer*innen richten darf: Bitte benennt die Dinge nachdem was sie sind. “Taste”, “Grafic3041” und “xliwlerlink” sind nicht besonders nutzungsfreundlich.

Eines dürfen wir alle nicht vergessen: gäbe es das Internet nicht, wären die Möglichkeiten um einiges reduzierter. Ich wäre auf jemanden angewiesen, der mir alles vorliest. Es gilt also die Nerven zu behalten und zu akzeptieren, wenn etwas nicht perfekt gelöst wurde – auch wenn ich selbst mich oft fürchterlich aufrege:-). Es ist besser überhaupt eine Welt betreten zu können und manchmal im Dunkeln zu suchen, als gar keine Möglichkeiten zu haben. 

Marcel Roesch

"Es gibt immer einen Weg, gemeinsam schaffen wir es. Es werde "Licht"."

Marcel Roesch ist Leiter des internen Filmteams der Swisscom. Dort ist er Storyteller und bildet Lernende aus. Seit frühster Kindheit ist er fast blind und kann nur Schemen erkennen. Das Verfassen von Nachrichten auf dem Smartphone ist daher eine Herausforderung und dauert lange. Da er existierende Lösungen für sehbehinderte Menschen nicht praktisch fand, hat er im Rahmen von “Kickbox”, dem internen Förderungsprogramm der Swisscom und mit Unterstützung von Creaholic und weiteren Investoren, kurzerhand eine eigene haptische Handytastatur entwickelt.

Wo kann ich mich über die geltenden und empfohlenen Richtlinien informieren?

Die “Web Content Accessibility Guidelines”, oder zu Deutsch die “Richtlinien für barrierefreie Webinhalte” sind internationaler Standard für die Gestaltung von barrierefreien Internetangeboten. Ausgearbeitet wurden die Richtlinien von der Web Accessibility Initiative des World Wide Web Consortiums (W3C), dem Gremium zur Standardisierung von Techniken und Technologien im Web.
Diese Richtlinien gehen natürlich über die spezifischen Bedürfnisse von sehbehinderten Menschen hinaus und berücksichtigen beispielsweise auch Taubheit, Bewegungseinschränkungen oder Lichtempfindlichkeit.
Grob sind die WCAG in vier Prinzipien unterteilt. Webinhalte müssen wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sein. Pro Prinzip gibt es definierte Erfolgskriterien, welche wiederum in drei Stufen eingeteilt werden - je nach Priorität der Anforderung. 

  • Stufe A: Basisanforderung und höchste Priorität

  • Stufe AA: Anforderungen mittlerer Priorität 

  • Stufe AAA: zusätzliche Anforderung, niedrige Priorität

Die WCAG als übergeordnete Referenz von Accessibility Standards sind sehr umfassend. Sie beinhalten eine Vielzahl von Empfehlungen, die den Umfang dieses Blogbeitrages bei weitem sprengen würden. Wir verzichten deshalb auf einen Versuch hier die “wichtigsten” Punkte zusammenzufassen, sondern stellen euch lieber die wichtigsten Quellen zur Verfügung.

 

Wo kann ich mir Hilfe holen?

Wer selber nicht die Kapazitäten hat, die Richtlinien zu studieren und zu prüfen, ob eine entwickelte Lösung den Standards gerecht wird kann sich natürlich bei unterschiedlichen Stellen Hilfe holen. So bietet beispielsweise die Stiftung “Zugang für alle” Einschätzungen und Audits zum Thema Accessibility an. Dabei werden digitale Lösungen von Expert*innen auf digitale Barrierefreiheit geprüft, basierend auf den WCAG. 

Nebst diesen Dienstleistungen stellt “Zugang für alle” auch wichtige Informationen und praktische Checklisten zur Verfügung und bietet Kurse und Zertifizierungen an. 

Wir finden das eine gute und vor allem wichtige Sache, weshalb wir die Stiftung als Gönnerin unterstützen. 

Hier kannst auch Du Gönner*in werden!

An dieser Stelle möchten wir uns ganz herzlich bei Marcel Roesch bedanken: Für die unkomplizierte Zusammenarbeit, das uns entgegengebrachte Vertrauen und die stets aufgestellte Art - Merci!

Wir haben grad gemerkt, dass du mit Internet Explorer surfst. Unsere Webseite sieht damit leider nicht so schön aus.

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